Können Sie sich daran erinnern, wann Sie sich das letzte Mal so richtig gelangweilt haben? Nein? Dann sind Sie kein Einzelfall, denn tatsächlich ist die gute alte Langeweile irgendwann zwischen Facebook-Update und Netflix-Siegeszug klammheimlich zur Mangelware geworden. Doch wie konnte es soweit kommen? Warum langweilen wir uns so selten oder auch gar nicht mehr? Und ist das nun eigentlich gut oder schlecht?
Vom Fluch der unendlichen Möglichkeiten
Als die USA den Beinamen „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ erhielten, war das natürlich durchweg positiv gemeint. Die Kernaussage: Hier kann jeder alles erreichen – wenn er nur will. Denn Möglichkeiten, sich beruflich und persönlich zu verwirklichen, gibt es im Überfluss.
Mittlerweile sind nicht mehr nur die Vereinigten Staaten von Amerika ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Auch hierzulande stehen uns alle Türen offen und laden dazu ein, Neues zu entdecken. Was im ersten Moment ziemlich verlockend klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung jedoch mehr und mehr als Fluch. Denn die Multioptionalität, mit der wir Tag für Tag konfrontiert werden, kann auf Dauer ganz schön überfordernd sein.
Was ist Langeweile?
Doch gehen wir zunächst einmal zurück zum Anfang. Haben Sie sich schon einmal ernsthaft gefragt, was Langeweile ist? Oder warum sich der Mensch langweilt?
Langeweile ist ein meist sehr unangenehmer Gemütszustand, der auftritt, wenn wir nichts zu tun haben oder unsere Tätigkeit besonders monoton – um nicht zu sagen: stumpfsinnig – ist. Sie bezieht sich in der Regel auf eine bestimmte Situation, kann aber in Ausnahmefällen auch als existenzielle Form auftreten.
Menschen, die von einer existenziellen Langeweile betroffen sind, fragen sich häufig, was der Sinn ihres Lebens oder was ihre konkrete Aufgabe auf der Welt ist. Die existenzielle Langeweile zu bekämpfen ist weitaus schwieriger als die situative (oder auch banale) Langweile zu vertreiben.
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass wir uns immer dann langweilen, wenn wir unterfordert sind, also in unserem Tun (oder eben auch Nichts-Tun) keine Herausforderung sehen.
Warum Langeweile lange Zeit stigmatisiert wurde
Während man Kinder, die mit quengeliger Stimme „Mir ist langweilig!“ verkünden, meist nur milde belächelt, stellt Langeweile im Erwachsenenalter meist ein großes (und ernstzunehmendes) Problem dar. Dass wir Langeweile in der Regel als unangenehme Belastung empfinden, hat selbstverständlich seine Gründe.
In diesem Zusammenhang wird gern auf den Heiligen Benedikt verwiesen. Ihm wird gern der Spruch „ora et labora“ – „Bete und arbeite“ – angedichtet. Oder mit anderen Worten: Verschwende nicht deine Zeit, sondern sorge dafür, dass du immer etwas zu tun hast und dein Leben mit einem höheren Sinn erfüllst.
Es wird uns sozusagen in die kulturelle Wiege gelegt, immer etwas zu machen und somit dem Stillstand zu entgehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, dass Langeweile – also der Gemütszustand, der auftritt, wenn wir nichts zu tun haben oder unterfordert sind – im Laufe der Zeit regelrecht verteufelt wurde. Das Skurrile daran: Nachdem die Langeweile jahrhundertelang stigmatisiert wurde, sehnen sich heute manche regelrecht nach ihr.
Unbegrenzte Möglichkeiten als natürlicher Feind der Langeweile
Damit sind wir wieder beim bereits angesprochenen Punkt Multioptionalität. Der moderne westliche Mensch hat permanent die Qual der Wahl, wenn es darum geht, seinen Tag mit Inhalt zu füllen.
Während die Marschrichtung im Job noch mehr oder weniger klar vorgegeben wird, werden wir gerade in unserer Freizeit häufig regelrecht von all den Möglichkeiten der Gestaltung überrollt. Entspannen im Park oder doch lieber eine Runde joggen? Essen gehen mit den Freunden oder eher eine Pizza beim Lieferanten bestellen? Den neuen Bestseller lesen oder stattdessen die Spielekonsole in die Hand nehmen?
Wir werden ständig vor neue – selbstverständlich völlig banale – Entscheidungen gestellt und vergessen dabei komplett, dass es auch absolut in Ordnung wäre, einfach mal einen Gang zurückzuschalten. Das „süße Nichtstun“ ist für viele nichts weiter als ein urbaner Mythos – ein Phänomen, das man bestenfalls vom Hörensagen kennt, selber aber noch nie erlebt hat. Es scheint fast schon so, als hätten viele von uns verlernt, sich zu langweilen. Dabei kann Langeweile in manchen Situationen auch durchaus hilfreich sein.
Langeweile fördert die Kreativität
Dass Langeweile kreativ macht, kann schon bei Kleinkindern beobachtet werden. Denn wenn diese nichts mit sich anzufangen wissen, dauert es meist nur wenige Augenblicke, bis sie sich vollständig in ihrer eigenen Phantasiewelt verloren haben.
Auch Sie als Erwachsener können maßgeblich von der Langeweile profitieren – vorausgesetzt, Sie sind in der Lage, sie über einen längeren Zeitraum auszuhalten. Denn Langeweile fördert nachweislich die Kreativität und sorgt dafür, dass viele neue Ideen geboren werden.
Kein Wunder, denn nun, da das Gehirn nicht von Reizen, Informationen und Entscheidungen überfordert wird, hat es endlich wieder die Möglichkeit, sich frei zu entfalten (was natürlich im übertragenen Sinne zu verstehen ist). Sich langweilen bedeutet nämlich auch, ganz allein mit seinen Gedankengängen zu sein und sich bewusst mit diesen auseinanderzusetzen. Sie werden erstaunt sein, was Sie alles „hören“, wenn Ihre Gedanken mal nicht vom typischen Alltagsrauschen übertönt werden und Platz haben, sich frei zu entfalten.
Die Angst, etwas zu verpassen
Sich mal eben so richtig langweilen, um viele neue Ideen zu entwickeln – das ist natürlich leichter gesagt als getan. Gerade weil Langeweile über die Jahre so stigmatisiert wurde, haben viele Menschen es regelrecht verlernt, sich zu langweilen.
Die wohl größte Herausforderung, die sich einem dabei in den Weg stellt: Die Angst, etwas zu verpassen. Sobald wir uns dazu zwingen, das Smartphone beiseite zu legen und den Fernseher auszuschalten, macht sich in uns ein ungutes Gefühl breit – das Gefühl, nicht mehr auf dem neuesten Stand zu sein, weil die Welt mit all ihren Möglichkeiten und Geschehnissen in Überschallgeschwindigkeit an uns vorbei saust.
Genau hierin liegt die Kunst der gepflegten Langeweile. Sie müssen Schritt für Schritt lernen, das Nichtstun auszuhalten und zu akzeptieren, dass es okay ist, nicht ständig up to date zu sein. Die Empfehlung, sich mal wieder ganz bewusst zu langweilen, mag vielleicht paradox klingen und allem widersprechen, was Ihnen mit auf den Weg gegeben wurde. Aber sollte man es nicht gerade deshalb auf einen Versuch ankommen lassen?
Langweilen für Anfänger
Wenn Sie Langeweile in der letzten Zeit tunlichst vermieden haben, dann sollten Sie auf jeden Fall klein anfangen.
- Bestimmen Sie einen festen Zeitraum am Tag, an dem Sie sich nichts vornehmen und Ihre Freizeit genießen können.
- Versuchen Sie, diesen Termin so zu legen, dass Sie Aufgaben wie Einkauf, Abwasch oder Hausaufgaben mit den Kindern schon erledigt haben.
- Begeben Sie sich in eine Umgebung, in der Sie sich wohlfühlen.
- Legen Sie die Fernbedienung, das Smartphone, ihr aktuelles Buch und alle anderen Ablenkungsfallen beiseite.
- Beginnen Sie nun, sich Ihren Gedanken hinzugeben und (ganz wichtig!) widerstehen Sie dem Drang, irgendetwas (Sinnvolles) zu tun.
- Halten Sie die Langeweile für ein paar Minuten aus – mehr als fünf oder zehn werden Sie zu Beginn wahrscheinlich nicht schaffen.
- Wiederholen Sie den Prozess und verlängern Sie die Phase der Langeweile nach und nach.
Langweilen für Fortgeschrittene
Einfach nur nichts tun erscheint Ihnen zu trivial? Dann sollten Sie vielleicht Mitglied im „Verein zur Verzögerung der Zeit“ werden. (Ja, eine solche Organisation gibt es wirklich.) Auf der Seite des Vereins lesen Sie nicht nur, welche Motivation dahinter steckt („Es geht den Mitgliedern um einen neuen, gesünderen, menschlichen Umgang mit der Zeit in allen Bereichen.“), sondern auch, wie Sie selbst ein Mitglied werden können („Wer Mitglied im Verein zur Verzögerung der Zeit sein will, muss sich lediglich, wie es in den Statuten heißt, ‚verpflichten, innezuhalten, und dort zum Nachdenken aufzufordern, wo blinder Aktivismus und partikuläres Interesse Scheinlösungen produziert.‘“) (Quelle: Homepage des Vereins zur Verzögerung der Zeit)
Oder mit anderen Worten: Hören Sie auf, etwas zu tun, nur um des Tuns willen. Genau hierin liegt nämlich das vermutlich größte Problem unserer Kultur im Hinblick auf das Thema Langeweile. Wir fürchten uns so sehr vor diesem unangenehmen Zustand, dass wir uns permanenten „blinden Aktivismus“ auferlegen. Dass es vollkommen in Ordnung ist, hin und wieder einfach nichts zu tun – dieser Gedanke ist vielen Menschen noch immer fremd.
Das Sabbatjahr als Anlass zur geplanten Langeweile
Dieser Artikel verfolgt nicht das Ziel, Sie nun zum grenzenlosen Faulenzen zu animieren. Er soll vielmehr die Augen für ein Thema öffnen, das viel zu selten beachtet wird. Die Schnelllebigkeit der modernen Welt, die Omnipräsenz digitaler Medien, Reizüberflutung durch technische Geräte, die Möglichkeit, zwischen unendlich vielen Optionen zu wählen – all das und noch viel mehr sorgt dafür, dass wir es Schritt für Schritt verlernt haben, uns zu langweilen.
Eine Fähigkeit, die damit ebenfalls verloren bei vielen verloren gegangen ist: Innehalten und den Moment genießen, einfach im Hier und Jetzt leben und nicht gedanklich schon fünf Schritte voraus sein.
Wenn Sie mit dem Gedanken spielen, ein Sabbatjahr einzulegen, dann ist das die beste Voraussetzung, um sich mal wieder ganz gezielt dem süßen Nichtstun hinzugeben. Nutzen Sie die freie Zeit, die Ihnen dadurch zur Verfügung steht und finden Sie heraus, was es bedeutet, innezuhalten und den Gedanken wieder mehr Raum zur freien Entfaltung zu geben.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Langweilen.